In den 1950er bis Anfang der1960er Jahre war Gabriel Locher, bevor
er nach Übersee ging, Mitglied des Kirrlacher Musikvereins. Im Zusammenhang
mit dem Vereinsjubiläum des Musikvereins hat Ehrenvorsitzender Erhard
Schmitteckert Gabriel Locher übers Internet gesucht und gefunden. Der
ehemalige Klarinettist, der in den USA ganz augenscheinlich als Bankkaufmann
ein wohlhabender Mann wurde, konnte die Einladung zum Fest leider nicht
annehmen. Unter dem unmittelbaren Eindruck der Fußballweltmeisterschaft und
dem bevorstehenden Jubiläum des Musikvereins hat Gabriel Locher eine sehr
interessante Mail geschrieben, das wir gerne einer breiteren Öffentlichkeit
zukommen lassen.
Hello Erhard! „Seit meiner letzten E-mail hat sich in Deutschland viel
zugetragen. Ich glaube nicht, dass ich jemals soviel Fußballspiele sah. Wenn
man die direkt übertragenen Bilder der Fanmeilen sieht, muss man staunen,
dass bei diesen Menschenmengen alles in einer so friedlichen und festlichen
Atmosphäre vor sich ging. Ohne Zweifel sehr positiv für Deutschland's Image
in der Welt. Natürlich wäre es schön gewesen für die Deutsche Mannschaft,
noch einen weiteren Schritt vorwärts zu kommen. Aber das Team hat sich auf
jeden Fall gut bewährt. Besser als die Kirrlacher beim Freundschaftsspiel
gegen Wiesental vor vielen Jahren. Wir haben sie mit Marschmusik zum
Wiesentaler Sportplatz begleitet. Viele der Fans oder Anhänger schmetterten
enthusiastisch "Grün und Weiß, wie ich liebe dich". Aber, an dem Tag ging es
auch nicht wie geplant, und wir versteckten unsere Instrumente unter unseren
Jacken und gingen etwas beschämt langsam durch den Wald heim. Der Einzug war
entschieden besser als der Abschied. Den Heimatbrief sowie die von Dir
genannten Web-Seiten habe ich mir schon ein paar mal angesehn. Ich muss
zugeben, dass ich nicht wusste, dass der Stinkbach so einen vornehmen Namen
wie "Duttlacher Graben" hat. Der Artikel über den Liederkranz hat mich
bewogen, auch deren Web-Seite zu finden und mir einige der Probelieder
anzuhören. Obwohl ich weiß, dass guter Gesang in Kirrlach seit eh und je
gepflegt wurde, war ich erstaunt über das Niveau und den Klang des
Männerchores. Ich sah auch, dass der Liederkranz bei der 100 - Jahr Feier
des Musikvereins mitwirken wird. Schade, dass ich nicht dabei sein kann.
Artur Hofmann möchte ich zu seiner hervorragenden Arbeit gratulieren. Er ist
nicht nur "praedestiniert", sondern auch sehr talentiert. Die Chronik des
Musikvereins ist interessant und aufschlussreich. Beim Lesen kommt einem
doch ein gewisser Stolz, das Privileg gehabt zu haben, bei dieser Gruppe
mitzuwirken. Vieles war mir neu und manches Miterlebte wurde wieder in
Erinnerung gebracht... Andreas Wittmer war bei meinem Eintritt Dirigent,
wurde aber bald durch Valentin Heiler abgelöst. In St. Ilgen, beim Spielen
der "Schöne Galathee" war ich ganze 14 Jahre alt. Damals gab's ne ganze
Menge Freibier, für welches ich zu jung war. Wurde aber von da an als
"voller" Musiker akzeptiert. Freibier war immer gut für die "Senioren" im
Verein, für uns Junge aber war die "Florida" attraktiv, weil man dort doch
schon etwas Taschengeld verdienen konnte. Artur erinnert sich vielleicht,
dass ich bei der "Florida" von Zeit zu Zeit Saxophon spielte. An die
Weihnachtsfeier ohne Dirigenten erinnere ich mich auch, genauso wie an die
Lindenwirtin, welche uns immer so empfing: "Gute Abend die Herre, was wolle
die Borscht, Cola die Bube". Damals, mit Valentin's Entlassung und
Wiedereinsetzung ins Amt, war viel los. Für einen jungen Mann waren das, wie
man es hier nennt, "exciting times". So waren die Waldfeste und das
Aufwachsen im Kreise hartgesottener Musiker. Wer erinnert sich nicht an den
alten Habich. Bei jedem Spielen der "Stars and Stripes" hatten wir Angst,
dass die Bässe es vielleicht nicht schaffen. Und, jeder wusste, dass Hermann
Busch wenigstens einen Kasten Bier brauchte, bevor er ins Schwanken kam.
Aber, wir erlebten auch, dass ihn die große Trommel beim Aufmarsch zur Erde
zwang und er, gefangen im Geschirr, weder weiter schlagen oder aufstehen
konnte. Sein Bruder Artur ermahnte uns immer wieder "Charmantisch" zu sein.
Von "Max, wenn Du den Tango tanzt" bis zu "Schön ist die Liebe im Hafen" hat
die "Florida" die Tanzunterhaltung bereichert. Die Maskenbälle, besonders
die Zeit vor Aschermittwoch waren besonders herausfordernd. Wir spielten bis
4 Uhr morgens. Standen um 6 auf, mit dem Fahrrad nach Waghauesel und dem Zug
nach Mannheim zur Arbeit. Da dachte sich mancher, heute Abend kann ich das
aber nicht wieder machen. Aber, bis der Abend kam, hatte man sich erholt und
es ging eben doch. Und so ging es bis Dienstag. Am Ende haben vor lauter
Klarinette- oder Saxophonblasen schon die Zähne gewackelt. Ich meine das
wirklich im Ernst. Es waren zum größten Teil "fun times", hatte aber auch
seine ernsten Seiten. In seinem Kommentar über Musiker aus
heimatvertriebenen Familien meint es Artur gut mit mir. Ich finde aber auch,
dass er ein Thema anschneidet, das mir als ehemaligen Heimatvertriebenen
auch etwas am Herzen liegt. Die Vertreibung aus unserer angestammten Heimat
war schwierig, und unsere Eltern waren auf diese Katastrophe eben so wenig
gefasst wie die Kirrlacher über das Elend, welches der Krieg brachte. Wir
landeten im Lager Kislau und wurden auf die umliegenden Ortschaften
verteilt. Unsere Familie wurde zuerst in einer Schreinerei in der
Moltkestraße untergebracht, dann zogen wir in ein Haus nahe des
"Stinkbachs", von dort in die St. Leonerstrasse 10, gegenüber der Schule bis
zum Neubau in der Jahnstrasse. Die damaligen Kirrlacher wurden nicht
gefragt, ob sie uns haben wollten. Und trotz zeitweiliger Unstimmigkeiten
war doch die Eingliederung der Heimatvertriebenen außerordentlich
erfolgreich. Das Verdienst für die weitgehend freundliche Aufnahme der
Heimatvertriebenen steht der Kirrlacher Bevölkerung von 1946 zu. Und ich
glaube nicht, dass wir, die Heimatvertriebenen uns jemals dafür bedankt
haben. Ich hätte das gerne persönlich gemacht, und vielleicht bietet sich in
Zukunft nochmals die Gelegenheit dazu. Heute aber möchte ich den Kirrlachern
der damaligen Zeit im Namen meiner Familie unseren herzlichsten Dank
aussprechen. Es wäre angebracht, den Menschen für ihre Verdienste ein
permanentes Denkmal zu erstellen. An unsere theatralische Errungenschaften
beim Musikverein erinnere ich mich sehr gut und habe auch noch etliche
Bilder davon. Leo bestand tatsächlich darauf, dass ich mit dem alten Gaul
auf die Bühne reite. Weiß nicht mehr, wem das Pferd gehörte, aber wir waren
glücklich, dass es unter der Vorstellung nicht notwendig wurde, hinter dem
Pferd aufzuräumen. Valentin Heiler spielte den Trompetensolo fabelhaft
hinter der Kulisse, während ich nur die Trompete fingierte. Hörte sich gut
an. Dass der Musikverein "lebt" und er zuversichtlich in die Zukunft schauen
kann freut mich außerordentlich. Dass ich bei der 100-Jahr-Feier nicht dabei
sein kann, tut mir sehr leid. Bis zum nächsten Mal.“
Gabriel
Gabriel Locher mit seinem Vater Michael Locher Anfang der
1960er Jahre in der Uniform des Kirrlacher Musikvereins.