Und hier noch ein paar Worte zum Nachdenken von
Matthias Horx, Trend- und Zukunfstforscher, Publizist und Visonär:
(Quelle:
https://www.horx.com/48-die-welt-nach-corona)
Die Corona-Rückwärts-Prognose: Wie wir uns wundern werden, wenn die
Krise „vorbei” ist
Ich werde derzeit oft gefragt, wann Corona denn „vorbei sein wird”,
und alles wieder zur Normalität zurückkehrt. Meine Antwort: Niemals.
Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung
ändert. Wir nennen sie Bifurkationen. Oder Tiefenkrisen. Diese Zeiten
sind jetzt.
Die Welt as we know it löst sich gerade auf. Aber dahinter fügt sich
eine neue Welt zusammen, deren Formung wir zumindest erahnen können.
Dafür möchte ich Ihnen eine Übung anbieten, mit der wir in
Visionsprozessen bei Unternehmen gute Erfahrungen gemacht haben. Wir
nennen sie die RE-Gnose. Im Gegensatz zur PRO-Gnose schauen wir mit
dieser Technik nicht »in die Zukunft«. Sondern von der Zukunft aus
ZURÜCK ins Heute. Klingt verrückt? Versuchen wir es einmal:
Die Re-Gnose: Unsere Welt im Herbst 2020
Stellen wir uns eine Situation im Herbst vor, sagen wir im September
2020. Wir sitzen in einem Straßencafe in einer Großstadt. Es ist warm,
und auf der Strasse bewegen sich wieder Menschen. Bewegen sie sich
anders? Ist alles so wie früher? Schmeckt der Wein, der Cocktail, der
Kaffee, wieder wie früher? Wie damals vor Corona?
Oder sogar besser?
Worüber werden wir uns rückblickend wundern?
Wir werden uns wundern, dass
die sozialen Verzichte,
die wir leisten mussten, selten zu Vereinsamung führten. Im Gegenteil.
Nach einer ersten Schockstarre führten viele von sich sogar
erleichtert, dass das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf
Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam. Verzichte müssen nicht
unbedingt Verlust bedeuten, sondern können sogar neue
Möglichkeitsräume eröffnen. Das hat schon mancher erlebt, der zum
Beispiel Intervallfasten probierte – und dem plötzlich das Essen
wieder schmeckte. Paradoxerweise erzeugte die körperliche Distanz, die
der Virus erzwang, gleichzeitig neue Nähe. Wir haben Menschen
kennengelernt, die wir sonst nie kennengelernt hätten. Wir haben alte
Freunde wieder häufiger kontaktiert, Bindungen verstärkt, die lose und
locker geworden waren. Familien, Nachbarn, Freunde, sind näher gerückt
und haben bisweilen sogar verborgene Konflikte gelöst.
Die gesellschaftliche Höflichkeit, die wir vorher zunehmend
vermissten, stieg an.
Jetzt im Herbst 2020 herrscht bei Fussballspielen eine ganz andere
Stimmung als im Frühjahr, als es jede Menge Massen-Wut-Pöbeleien gab.
Wir wundern uns, warum das so ist.
Wir werden uns wundern, wie schnell sich plötzlich Kulturtechniken des
Digitalen in der Praxis bewährten. Tele- und Videokonferenzen, gegen
die sich die meisten Kollegen immer gewehrt hatten (der
Business-Flieger war besser) stellten sich als durchaus praktikabel
und produktiv heraus. Lehrer lernten eine Menge über Internet-Teaching.
Das Homeoffice wurde für Viele zu einer Selbstverständlichkeit –
einschließlich des Improvisierens und Zeit-Jonglierens, das damit
verbunden ist.
Gleichzeitig erlebten scheinbar veraltete Kulturtechniken eine
Renaissance. Plötzlich erwischte man nicht nur den Anrufbeantworter,
wenn man anrief, sondern real vorhandene Menschen. Das Virus brachte
eine neue Kultur des Langtelefonieren ohne Second Screen hervor. Auch
die »messages« selbst bekamen plötzlich eine neue Bedeutung. Man
kommunizierte wieder wirklich. Man ließ niemanden mehr zappeln. Man
hielt niemanden mehr hin. So entstand eine neue Kultur der
Erreichbarkeit. Der Verbindlichkeit.
Menschen, die vor lauter Hektik nie zur Ruhe kamen, auch junge Menschen,
machten plötzlich ausgiebige Spaziergänge (ein Wort, das vorher eher
ein Fremdwort war). Bücher lesen wurde plötzlich zum Kult.
Reality Shows wirkten plötzlich grottenpeinlich. Der ganze
Trivia-Trash, der unendliche Seelenmüll, der durch alle Kanäle
strömte. Nein, er verschwand nicht völlig. Aber er verlor rasend an
Wert.
Kann sich jemand noch an den Political-Correctness-Streit erinnern?
Die unendlich vielen Kulturkriege um … ja um was ging da eigentlich?
Krisen wirken vor allem dadurch, dass sie alte Phänomene auflösen,
über-flüssig machen…
Zynismus, diese lässige Art, sich die Welt durch Abwertung vom Leibe
zu halten, war plötzlich reichlich out.
Die Übertreibungs-Angst-Hysterie in den Medien hielt sich, nach einem
kurzen ersten Ausbruch, in Grenzen.
Nebenbei erreichte auch die unendliche Flut grausamster Krimi-Serien
ihren Tipping Point.
Wir werden uns wundern, dass
schließlich doch schon im Sommer Medikamente gefunden wurden, die die
Überlebensrate erhöhten. Dadurch wurden die Todesraten gesenkt und
Corona wurde zu einem Virus, mit dem wir eben umgehen müssen – ähnlich
wie die Grippe und die vielen anderen Krankheiten. Medizinischer
Fortschritt half. Aber wir haben auch erfahren: Nicht so sehr die
Technik, sondern die Veränderung sozialer Verhaltensformen war das
Entscheidende. Dass Menschen trotz radikaler Einschränkungen
solidarisch und konstruktiv bleiben konnten, gab den Ausschlag. Die
human-soziale Intelligenz hat geholfen. Die vielgepriesene Künstliche
Intelligenz, die ja bekanntlich alles lösen
kann, hat dagegen in Sachen Corona nur begrenzt gewirkt.
Damit hat sich das Verhältnis zwischen Technologie und Kultur
verschoben. Vor der Krise schien Technologie das Allheilmittel, Träger
aller Utopien. Kein Mensch – oder nur noch wenige Hartgesottene –
glauben heute noch an die große digitale Erlösung. Der große
Technik-Hype ist vorbei. Wir richten unsere Aufmerksamkeiten wieder
mehr auf die humanen Fragen: Was ist der Mensch? Was sind wir
füreinander?
Wir staunen rückwärts, wieviel
Humor und Mitmenschlichkeit in den Tagen des Virus tatsächlich
entstanden ist.
Wir werden uns wundern, wie
weit die Ökonomie schrumpfen konnte, ohne dass so etwas wie
»Zusammenbruch« tatsächlich passierte, der vorher bei jeder noch so
kleinen Steuererhöhung und jedem staatlichen Eingriff beschworen
wurde. Obwohl es einen »schwarzen April« gab, einen tiefen
Konjunktureinbruch und einen Börseneinbruch von 50 Prozent, obwohl
viele Unternehmen pleitegingen, schrumpften oder in etwas völlig
anderes mutierten, kam es nie zum Nullpunkt. Als wäre Wirtschaft ein
atmendes Wesen, das auch dösen oder schlafen und sogar träumen kann.
Heute im Herbst, gibt es wieder eine Weltwirtschaft. Aber die Globale
Just-in-Time-Produktion, mit riesigen verzweigten
Wertschöpfungsketten, bei denen Millionen Einzelteile über den
Planeten gekarrt werden, hat sich überlebt. Sie wird gerade demontiert
und neu konfiguriert. Überall in den Produktionen und
Service-Einrichtungen wachsen wieder Zwischenlager, Depots, Reserven.
Ortsnahe Produktionen boomen, Netzwerke werden lokalisiert, das
Handwerk erlebt eine Renaissance. Das Global-System driftet in
Richtung GloKALisierung: Lokalisierung des Globalen.
Wir werden uns wundern, dass
sogar die Vermögensverluste durch den Börseneinbruch nicht so
schmerzen, wie es sich am Anfang anfühlte. In der neuen Welt spielt
Vermögen plötzlich nicht mehr die entscheidende Rolle. Wichtiger sind
gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten.
Könnte es sein, dass das Virus unser Leben in eine Richtung geändert
hat, in die es sich sowieso verändern wollte?
RE-Gnose: Gegenwartsbewältigung durch Zukunfts-Sprung
Warum wirkt diese Art der »Von-Vorne-Szenarios« so irritierend anders
als eine klassische Prognose? Das hängt mit den spezifischen
Eigenschaften unseres Zukunfts-Sinns zusammen. Wenn wir »in die
Zukunft« schauen, sehen wir ja meistens nur die Gefahren und Probleme »auf
uns zukommen«, die sich zu unüberwindbaren Barrieren türmen. Wie eine
Lokomotive aus dem Tunnel, die uns überfährt. Diese Angst-Barriere
trennt uns von der Zukunft. Deshalb sind Horror-Zukünfte immer am
Einfachsten darzustellen.
Re-Gnosen bilden hingegen eine Erkenntnis-Schleife, in der wir uns
selbst, unseren inneren
Wandel, in die Zukunftsrechnung einbeziehen. Wir setzen uns
innerlich mit der Zukunft in Verbindung, und dadurch entsteht eine
Brücke zwischen Heute und Morgen. Es entsteht ein »Future Mind« –
Zukunfts-Bewusstheit.
Wenn man das richtig macht, entsteht so etwas wie
Zukunfts-Intelligenz. Wir sind in der Lage, nicht nur die äußeren
»Events«, sondern auch die inneren Adaptionen, mit denen wir auf eine
veränderte Welt reagieren, zu antizipieren.
Das fühlt sich schon ganz anders an als eine Prognose, die in ihrem
apodiktischen Charakter immer etwas Totes, Steriles hat. Wir verlassen
die Angststarre und geraten wieder in die Lebendigkeit, die zu jeder
wahren Zukunft gehört.
Wir alle kennen das Gefühl
der geglückten Angstüberwindung. Wenn wir für eine Behandlung
zum Zahnarzt gehen, sind wir schon lange vorher besorgt. Wir verlieren
auf dem Zahnarztstuhl die Kontrolle und das schmerzt, bevor es
überhaupt wehtut. In der Antizipation dieses Gefühls steigern wir uns
in Ängste hinein, die uns völlig überwältigen können. Wenn wir dann
allerdings die Prozedur überstanden haben, kommt es zum Coping-Gefühl:
Die Welt wirkt wieder jung und frisch und wir sind plötzlich voller
Tatendrang.
Coping heißt: bewältigen.
Neurobiologisch wird dabei das Angst-Adrenalin durch Dopamin ersetzt,
eine Art körpereigener Zukunfts-Droge. Während uns Adrenalin zu Flucht
oder Kampf anleitet (was auf dem Zahnarztstuhl nicht so richtig
produktiv ist, ebenso wenig wie beim Kampf gegen Corona), öffnet
Dopamin unsere Hirnsynapsen: Wir sind gespannt auf das Kommende,
neugierig, vorausschauend. Wenn wir einen gesunden Dopamin-Spiegel
haben, schmieden wir Pläne, haben Visionen, die uns in die
vorausschauende Handlung bringen.
Erstaunlicherweise machen viele in der Corona-Krise genau diese
Erfahrung. Aus einem massiven Kontrollverlust wird plötzlich ein
regelrechter Rausch des Positiven. Nach einer Zeit der
Fassungslosigkeit und Angst entsteht eine innere Kraft. Die Welt
»endet«, aber in der Erfahrung, dass wir immer noch da sind, entsteht
eine Art Neu-Sein im Inneren.
Mitten im Shut-Down der Zivilisation laufen wir durch Wälder oder
Parks, oder über fast leere Plätze. Aber das ist keine Apokalypse,
sondern ein Neuanfang.
So erweist sich: Wandel beginnt als verändertes Muster von
Erwartungen, von Wahr-Nehmungen und Welt-Verbindungen. Dabei ist es
manchmal gerade der Bruch mit den Routinen, dem Gewohnten, der unseren
Zukunfts-Sinn wieder freisetzt. Die Vorstellung und Gewissheit, dass
alles ganz anders sein könnte – auch im Besseren.
Vielleicht werden wir uns
sogar wundern, dass Trump im November abgewählt wird. Die AFD
zeigt ernsthafte Zerfransens-Erscheinungen, weil eine bösartige,
spaltende Politik nicht zu einer Corona-Welt passt. In der
Corona-Krise wurde deutlich, dass diejenigen, die Menschen
gegeneinander aufhetzen wollen, zu echten Zukunftsfragen nichts
beizutragen haben. Wenn es ernst wird, wird das Destruktive deutlich,
das im Populismus wohnt.
Politik in ihrem Ur-Sinne als Formung gesellschaftlicher
Verantwortlichkeiten bekam dieser Krise eine neue Glaubwürdigkeit,
eine neue Legitimität. Gerade weil sie »autoritär« handeln musste,
schuf Politik Vertrauen ins Gesellschaftliche. Auch die Wissenschaft
hat in der Bewährungskrise eine erstaunliche Renaissance erlebt.
Virologen und Epidemiologen wurden zu Medienstars, aber auch
»futuristische« Philosophen, Soziologen, Psychologen, Anthropologen,
die vorher eher am Rande der polarisierten Debatten standen, bekamen
wieder Stimme und Gewicht.
Fake News hingegen verloren rapide an Marktwert. Auch
Verschwörungstheorien wirkten plötzlich wie Ladenhüter, obwohl sie wie
saures Bier angeboten wurden.
Ein Virus als Evolutionsbeschleuniger
Tiefe Krisen weisen obendrein auf ein weiteres Grundprinzip des
Wandels hin: Die Trend-Gegentrend-Synthese.
Die neue Welt nach Corona – oder besser mit Corona – entsteht aus der
Disruption des Megatrends Konnektivität.
Politisch-ökonomisch wird dieses Phänomen auch »Globalisierung«
genannt. Die Unterbrechung der Konnektivität – durch
Grenzschließungen, Separationen, Abschottungen, Quarantänen – führt
aber nicht zu einem Abschaffen der
Verbindungen. Sondern zu einer Neuorganisation der Konnektome, die
unsere Welt zusammenhalten und in die Zukunft tragen. Es kommt zu
einem Phasensprung
der sozio-ökonomischen Systeme.
Die kommende Welt wird Distanz wieder schätzen – und gerade dadurch
Verbundenheit qualitativer gestalten. Autonomie und Abhängigkeit,
Öffnung und Schließung, werden neu ausbalanciert. Dadurch kann die
Welt komplexer, zugleich aber auch stabiler werden. Diese Umformung
ist weitgehend ein blinder evolutionärer Prozess – weil das eine
scheitert, setzt sich das Neue, überlebensfähig, durch. Das macht
einen zunächst schwindelig, aber dann erweist es seinen inneren Sinn:
Zukunftsfähig ist das, was die Paradoxien auf einer neuen Ebene
verbindet.
Dieser Prozess der Komplexierung – nicht zu verwechseln mit
Komplizierung – kann aber auch von Menschen bewusst gestaltet werden.
Diejenigen, die das können, die die Sprache der kommenden Komplexität
sprechen, werden die Führer von Morgen sein. Die werdenden
Hoffnungsträger. Die kommenden Gretas.
„Wir werden durch Corona unsere gesamte Einstellung gegenüber dem
Leben anpassen – im Sinne unserer Existenz als Lebewesen inmitten
anderer Lebensformen.”
Slavo Zizek im Höhepunkt der Coronakrise Mitte März
Jede Tiefenkrise
hinterlässt eine Story, ein Narrativ, das weit in die Zukunft
weist. Eine der stärksten Visionen, die das Coronavirus hinterlässt,
sind die musizierenden Italiener auf den Balkonen. Die zweite Vision
senden uns die Satellitenbilder, die plötzlich die Industriegebiete
Chinas und Italiens frei von Smog zeigen. 2020 wird der
CO&sub2;-Ausstoss der Menschheit zum ersten Mal fallen. Diese Tatsache
wird etwas mit uns machen.
Wenn das Virus so etwas kann – können wir das womöglich auch?
Vielleicht war der Virus nur ein Sendbote aus der Zukunft. Seine
drastische Botschaft lautet: Die menschliche Zivilisation ist zu
dicht, zu schnell, zu überhitzt geworden. Sie rast zu sehr in eine
bestimmte Richtung, in der es keine Zukunft gibt.
Aber sie kann sich neu erfinden.
System reset.
Cool down!
Musik auf den Balkonen!
So geht Zukunft. |